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Wir wählen! Menschen mit Behinderung diskutieren mit Bundestagskandidaten

Für Kirsten Hamburg ist es ein aufregender Moment. Die 50-Jährige lebt im Karl-Schütze-Heim des Hamburger Lebenshilfe-Werks in Merkendorf. Normalerweise arbeitet sie in einer Werkstatt, aber heute, am 21. September, drei Tage vor der Bundestagswahl, steht sie vor einer Versammlung von 50 Menschen und stellt eine Frage an eine Kandidatin und zwei Kandidaten für den Deutschen Bundestag. Sie will wissen, wie die Polizei dafür sorgen kann, dass sich Menschen überall auf der Straße sicher fühlen. Denn sie hat es selbst erlebt und weiß auch von anderen: Manchmal hat man Angst.

Auch für Ingo Gädechens, den CDU-Direktkandidaten im Wahlkreis Ostholstein/Stormarn-Nord, ist es ein spannender Moment. Klar, über Innere Sicherheit hat er schon oft gesprochen. Aber jetzt muss er es schaffen, sein Wissen und seinen Standpunkt in sehr einfache Sprache zu fassen. Kurze und anschauliche Sätze, keine schwierigen Worte. Denn das Publikum – fast alle sind Bewohnerinnen und Bewohner des Karl-Schütze-Heims – will verstehen, was er sagt.

Alles in allem gelingt das Herrn Gädechens – ebenso wie seiner Mitbewerberin Bettina Hagedorn von der SPD und Gösta Beutin von der LINKEN – an diesem Vormittag recht gut. Carsten Kock, Politikredakteur beim Sender RSH, sorgt als Moderator für gute Stimmung. Und so findet fast zwei Stunden lang ein intensiver und konzentrierter Dialog statt. Bewohnerinnen und Bewohner des Heims stellen Fragen zum Schutz der Umwelt, zur Verständlichkeit von Wahlprogrammen oder zur Zukunft der Förderschulen.

 Dass Kirsten Hamburg und andere Bewohnerinnen und Bewohner des Karl-Schütze-Heims mit diesen Themen gut zurechtkommen, hat eine Vorgeschichte: Vier Tage lang haben sie sich in einer Fortbildung im Karl-Schütze-Heim mit dem Thema „Bundestagswahlen“ beschäftigt. Diese Fortbildung hat der Träger des Hauses, das Hamburger Lebenshilfe-Werk, zusammen mit Fachleuten des Netzwerks „Capito“ angeboten. Dort wurden erst einmal – in Form eines Quiz – Grundbegriffe geklärt: Was ist der Bundestag? Wer gehört dazu und wo trifft er sich? Wer ist die Bundeskanzlerin? Wer darf wählen und wie geht das ganz praktisch?

Der erste Tag war richtig anstrengend – aber mit der Zeit kam der Spaß. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen haben Werbespots der Parteien angeschaut, Wahlprogramme gelesen und viel diskutiert. Ein ehemaliger Bundestagsabgeordneter, Herr Hacker, war dabei und hat erzählt, was Abgeordnete so machen. Von den schwierigen Entscheidungen, der vielen Arbeit am Abend und dem Pendeln nach Berlin.

Für Michaela Kersting, die Leiterin des Karl-Schütze-Heims, und ihre Mitarbeitenden war die Fortbildung eine Herzenssache. „Selbst wählen und selbst entscheiden können – das ist gerade für Menschen mit Behinderung, die so oft von Bevormundung betroffen sind, unglaublich wichtig. Und es ist toll, wie Menschen Zusammenhänge erkennen und wie ihr Interesse erwacht, wenn man sich nur wirklich bemüht, die Dinge zu erklären. Das haben die Fortbildner von Capito prima hinbekommen.“

Kersting ist zornig, dass immer noch 85.000 Menschen mit Behinderung vom Wahlrecht zum Bundestag ausgeschlossen sind, weil für sie eine „rechtliche Betreuung in allen Angelegenheiten“ eingerichtet wurde. „Das verstößt gegen das Grundgesetz und gegen die UN-Behindertenrechtskonvention“, sagt sie. Bettina Hagedorn (SPD) und Gösta Beutin (LINKE) geben ihr Recht und versprechen, sich für die Abschaffung dieses Ausschlusses vom Wahlrecht einzusetzen. Ingo Gädechens (CDU) hält sich bedeckt – das müsse man erst einmal prüfen …

Große Politik und die Alltagsprobleme von Menschen hängen eng zusammen. Das zeigt sich, als mehrere Bewohner und Bewohnerinnen des Karl-Schütze Heims darüber klagen, dass sie die Haltestelle des Busses nach Neustadt schlecht erreichen, weil an der stark befahrenen Landstraße eine Fußgängerampel fehlt. „Vielleicht ist uns der Autoverkehr zu wichtig, und wir achten zu wenig darauf, dass gehbehinderte Menschen sicher unterwegs sein können“, meinen nachdenkliche Bundestagskandidaten - aber für Ampeln seien sie leider nicht zuständig, das sei Sache des Kreises. So leicht kommen sie aber bei Moderator Carsten Kock nicht davon. Es könne sehr wohl etwas bewirken, wenn sich Bundestagsabgeordnete in ihrem Wahlkreis – auch ohne Zuständigkeit – um so ein wichtiges Thema kümmern. Er will die drei jedenfalls in einem halben Jahr noch einmal fragen, was sie für die Ampel getan haben. 50 Zuhörerinnen und Zuhörer, viele davon mit Rollstuhl oder Rollator, spenden donnernden Applaus.